Jedes Alter hat seine Vergnügen, seinen Geist und seine Sitten: Der französische Dichter Nicolas Boileau-Despréaux verpackt geballte Lebensweisheit in einen einzigen Satz. Das Tink-Theater nimmt sich für diese Fülle an Erfahrung, Wissen und Erkenntnis eine Stunde Zeit. „Ein ganz normales Leben“ heißt das diesjährige Stück, das am vergangenen Freitag im Bolheimer Theaterstadel Premiere gefeiert hat. Es wurde von Doro Strauß erdacht und auch erfühlt. Die Regisseurin hat dabei auf Besserwisserei oder plumpe Ratschläge verzichtet. Der Spaziergang durch die Zeit hangelt sich lang am Moment, die Botschaft ist deutlich: Ob traurig oder überdreht, jeder Tag, jeder Lebensabschnitt ist wertvoll und kann nicht hoch genug geschätzt werden. „Es gibt eigentlich nicht viel zu sagen“, sagte denn Doro Strauß zur Begrüßung. „Es geht um das ganz normale Leben, so, wie wir es kennen.“ Chronologisch erzählten die 16 Darsteller, die teils dem Verein Therapeutisches Reiten angehören und teils von außen mit dazukommen, Geschichten aus Kindheit, Jugend und dem Rest des Lebens. Ein Paar, ein Kuss, ein Baby: „Eigentlich beginnt immer alles so: voller Liebe“, führte Lena Sofia Jahn vom Rande aus in die Anfangsszene ein, die sich hinter einer Schattenwand abspielte. Die gesamte Vorführung durch war die junge Frau Kommentatorin, Sängerin, Keyboardspielerin und Chorleiterin in einem und bereicherte mit ihrer kraftvollen Stimme und mit ihrem herzlichen Lachen das Stück ungemein.
Unaufgeregt und einprägsam
Nicht weniger Lob gebührt den Schauspielern. Mit unübersehbar viel Freude am Rampenlicht ließen sie Langeweile zum Fremdwort werden. Natürlich ist der Lauf des Lebens allseits bekannt. Kleine Kinder leben in den Tag hinein. Mit Mitte 20 ist die Suche nach dem eigenen Ich noch längst nicht abgeschlossen. Senioren müssen sich mit körperlichen Einschränkungen arrangieren. Und so weiter, und so fort. Aber wie unaufgeregt und dennoch einprägsam die guten wie die schlechten Seiten verschiedener Lebensabschnitte auf die Bühne gebracht wurden, das war richtig, richtig gut! Dass die Kulisse schlicht in schwarz und weiß gehalten ist, dass auch die Darsteller einheitlich schwarz tragen und dass es außer einer roten Rose und einem Teddy kaum noch andere Requisiten gibt, verstärkt dabei die Konzentration auf den Augenblick. Seit der Gründung von „Tink“ vor fünf Jahren ist die Truppe in nahezu unveränderter Besetzung beieinander und zu einem großen Ganzen zusammengewachsen. „Ein ganz normales Leben“, obwohl unterteilt in viele einzelne Szenen, wirkt wie aus einem Guss. Kein Stolpern, keine Distanz, dafür wortloses Verstehen und Freude an der Gemeinschaft. Dieser Zusammenhalt macht offenbar stark und mutig. Gleich mehrere Schauspieler trauten sich, im beinahe voll besetzten Theater-Stadel solo zu singen. Viel Beifall gab es auch für den Rap der Teenie-Clique: „Es gibt so vieles, was ich sagen will, doch mein Mund ist still. Hoch die Tassen, auf die Pubertät!“
Abstimmung unter den Zuschauern
Thomas Hierholz, Vorsitzender des Vereins für Therapeutisches Reiten, rief am Ende zur großen Abstimmung auf. Die Zuschauer sollten auf einem kleinen Zettel ankreuzen, welches der bisher fünf Tink-Stücke ihnen am besten gefallen hat. Hierholz: „Ich mag Musik, ich mag Nachdenkliches und ich lache gerne. Ich entscheide mich für ,Ein ganz normales Leben’. Ich habe mich in der letzten Stunde oft selbst ertappt und gedacht: Oh ja, bei uns daheim ist das auch so.“ Einigen Zuschauern ging es wohl ähnlich.
Obwohl sicher jeder mit reichlich Stoff zum Nachdenken den Heimweg antrat, war von Schwere nichts zu spüren, im Gegenteil: „Nein, sorg dich nicht um mich“, war hier und da zu hören, „du weißt ich liebe das Leben.“ Eben noch hatten die Schauspieler im Chor diesen Hit von Vicky Leandros so sanft und heiter gesungen. Nun wurde der Refrain als Gefühl mit nach Hause genommen. Danke, Tink, für diesen Ohrwurm.